zur Übersicht

Aktuelles-Beitrag vom

Gruneberg Rechtsanwälte, Köln

Weites Verständnis der Produktverantwortung:

Verwaltungsgericht tritt für einen umfassenden Freistellungsbescheid ein.

Urteilsanmerkungen VG Würzburg, Urteil vom 10.02.2015, W 4 K 13.1015

In einem aktuellen Urteil hat das VG Würzburg wesentliche und im Ergebnis weitreichende Aussagen zum Umfang und zur Reichweite der Produktverantwortung im Rahmen von freigestellten, freiwilligen Rücknahmesystemen nach § 26 KrWG getroffen. Die Entscheidung muss im unmittelbaren Zusammenhang mit der Freistellungsentscheidung der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt der Freien und Hansestadt Hamburg vom 25.03.2013 gegenüber einer großen, internationalen Modekette gesehen werden, auf die die Verwaltungsrichter im Übrigen auch ausdrücklich Bezug nehmen. Im Ergebnis handelt es sich um einen weiteren Beitrag zur Aufweichung kommunaler Überlassungspflichten nach § 17 Abs. 1 S. 1 KrWG.

Mit Pressemitteilung vom 11.02.2015 gab das Bayerische Verwaltungsgericht Würzburg (VG Würzburg) bekannt, dass der Klage der Adler Modemärkte gegen eine Verfügung des Bayerischen Landesamtes für Umwelt (LfU) teilweise stattgegeben wurde,

abrufbar unter: www.vgh.bayern.de/media/vgwuerzburg/presse/pm-adler.pdf.

Nunmehr liegen auch die Entscheidungsgründe vor.

I. Tatsächlicher Hintergrund der Entscheidung sowie allgemeine Problemstellung

Ausgediente und daher vom Bürger aussortierte Alttextilien und Schuhe stellen grundsätzlich Abfälle aus privaten Haushaltungen dar, welche gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 KrWG dem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger zu überlassen sind,

statt vieler OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.01.2014, 20 B 331/13, juris Rn. 11 ff..

Eng begrenzte Ausnahmetatbestände hiervon bestehen etwa für zulässige gemeinnützige bzw. gewerbliche Sammlungen (§ 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 4 KrWG), die ihre Sammlung angezeigt haben und die Abfälle einer ordnungsgemäßen und schadlosen Verwertung zuführen, soweit überwiegende Interessen nicht entgegenstehen.

Aufgrund der hohen Marktpreise für Alttextilien und Schuhe (zwischenzeitlich wurden Erlöse von über 500 €/t Alttextilien erzielt) drängen immer mehr gewerbliche und gemeinnützige Sammlungen in den originär hoheitlichen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich im Sinne der §§ 17 Abs. 1 Satz 1, 20 Abs. 1 KrWG. Dies führt nicht nur dazu, dass Sammlungsunternehmen aufgrund des harten Wettbewerbs auch auf eklatant ordnungs- und wettbewerbswidriges Verhalten setzen (etwa „wilde Containergestellungen“, illegale Abfalltransporte und Entsorgungswege),

zum illegalen Geschäftsmodell einiger Sammlungsunternehmen vgl. nur OVG Saarlouis, Beschluss vom 06.10.2014, 2 B 348/14, juris; zur Relevanz des Wettbewerbsrechts vgl. nur LG Verden, Urteil vom 23.12.2013, 10 O 1/13, juris,

sondern regt gerade auch die Prüfung von Möglichkeiten an, die eine Organisation entlang rechtlicher Grauzonen darstellt. Dabei spielen auch Möglichkeiten, Verfahren und Gestaltungsspielräume eine zentrale Rolle, die einen umfassenden und wesentlichen Zugriff auf überlassungspflichtige Abfälle ermöglichen, die Kompetenzen der örtlichen Abfallwirtschaftsbehörden umgehen und dabei gerade auch die Interessen und Rechte (§ 18 Abs. 4 KrWG) der örtlich zuständigen öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger außer Acht lassen.

So führen insbesondere große Mode- und Textilunternehmen gemeinsam mit (internationalen) Textilhandels- und Recyclingunternehmen „Kooperationsmodelle“ durch, mit dem den Kunden der Märkte die Möglichkeit eingeräumt wird, gebrauchte Kleidung gleich welchem Hersteller gegen einen Rabattgutschein abzugeben. Die dabei zurückgenommenen Alttextilien und Schuhe werden sodann von den Kooperationspartnern gesammelt, sortiert und international vermarktet.

Ein derartiges Kooperationsmodell lag auch der Entscheidung des VG Würzburg zugrunde. Erfolgreich verteidigte die Klägerin, die Adler Modemärkte AG, ihr Interesse an der Feststellung, dass die durch sie bewirkte freiwillige Rücknahme von Alttextilien unabhängig davon, ob diese Alttextilien aus dem Gebrauch von selbst hergestellter oder vertriebenen Alttextilien herrühren, in Wahrnehmung der eigenen Produktverantwortung erfolgt.

II. Wesentliche Entscheidungsgründe

Das LfU stand einem vollständigen beziehungsweise unbegrenzten Freistellungsbescheid kritisch gegenüber. Analog § 26 Abs. 6 KrWG in Verbindung mit § 26 Abs. 3 KrWG dürfe nach Auffassung des LfU der Feststellungsbescheid nur für die freiwillige Rücknahme solcher Abfälle erlassen werden, die aus dem Gebrauch von Erzeugnissen herrühren, die von der Klägerin als Adressatin des Feststellungsbescheids selbst hergestellt oder vertrieben worden seien.

Die Klage der Adler Modehaus AG richtete sich gegen diesen beschränkten Freistellungsbescheid: mit Erfolg. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes habe die Klägerin einen Anspruch aus § 26 Abs. 6 in Verbindung mit Absatz 3 KrWG auf Feststellung durch das LfU, dass die freiwillige Rücknahme von Alttextilien in Wahrnehmung der Produktverantwortung und unabhängig davon erfolgt, ob die Textilien von der Klägerin selbst hergestellt oder vertrieben wurden. Somit greift für die Klägerin eine Ausnahme von der grundsätzlichen Überlassungspflicht gemäß § 17 Abs. 1 KrWG, da diese Abfälle in Wahrnehmung der Produktverantwortung nach § 26 KrWG freiwillig zurücknimmt und hierfür ein Freistellungs- oder Feststellungsbescheid nach § 26 Abs. 3 oder Abs. 6 KrWG besteht, vgl. § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 KrWG.

Maßgeblich für die Entscheidungsfindung der Verwaltungsrichter war demnach die Herleitung und Reichweite der Begriffsdefinition der Produktverantwortung. Hierbei stünden sich zwei grundsätzliche Positionen gegenüber: Eine enge Auslegung des Begriffs reduziert die Verantwortlichkeit auf ein eigenes vorangegangenes Tun des Pflichtigen, während die weite Auslegung die Produktverantwortung im Sinne eines „Gruppenlastprinzip“ versteht, bei dem Hersteller und Vertreiber in einer Verantwortungsgemeinschaft für Waren der betreffenden Gattung vereint seien.

Nach Auffassung der Verwaltungsrichter sprechen im Wesentlichen Sinn und Zweck der freiwilligen Rücknahmen von Abfällen nach § 26 Abs. 6 KrWG sowie die Beurteilung nach Maßgabe einer Gesamtbetrachtung für eine weite Auslegung der Produktverantwortung.

Ein erstes Indiz dafür sei die Konzeption der Kreislaufwirtschaft nach der Vorstellung des Gesetzgebers unter Einbezug des großen Umsetzungsspielraums der Mitgliedstaaten im Rahmen der Abfallrahmenrichtlinie (2008/98/EG). Ziel sei demnach insbesondere nicht (mehr) die Abfallbeseitigung, sondern die Bewirtschaftung von Abfällen im Sinne der Abfallvermeidung und Abfallverwertung, wobei die Produktverantwortung (§ 23 ff. KrWG) eine tragende Säule darstellt.

Gestützt werden diese teleologischen Auslegungsergebnisse durch das Prinzip der Produktgruppen- bzw. Produktartverantwortung im Rahmen bestehender Rücknahmesysteme (BattG, VerpackV, ElektroG). Auch insoweit erstrecke sich die Rücknahmepflicht etwa im Bereich des Elektro- und Elektronikgerätegesetzes gerade auch auf Fremdgeräte. Diesbezüglich habe das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 26.11.2009 (Az.: 7 C 20/08) festgestellt, dass es

„in Anbetracht der Gesamtumstände und im Hinblick auf die Gruppenverantwortung der Hersteller [ist] es auch nicht unzumutbar [sei], dass die Hersteller auch die Entsorgung von Fremdgeräten finanzieren müssen. […] Hinsichtlich der historischen Altgeräte ist die Kostenbelastung für die aktuellen Marktteilnehmer dagegen Ausdruck eines Generationenvertrages zugunsten der Allgemeinheit und der Umwelt.“ (Hervorhebungen diesseits)

Kollektiven Sammelsystemen sei darüber hinaus systemimmanent, dass auch die Rücknahme und Entsorgung von Fremdgeräten ermöglicht werden müsse.

Nach Auffassung des VG Würzburg sprechen auch Erwägungen der Praktikabilität für eine weite Auslegung des Begriffs der Produktverantwortung. So sei insbesondere im Zeitalter von Massenartikeln eine Rückverfolgbarkeit einzelner Artikel nicht möglich sowie das Zuordnen von Produkten nicht mehr klar an einen Hersteller oder Vertreiber möglich.

Dabei müsse auch das Argument der Bewahrung einer inneren Konsistenz der Einzelbestimmungen der Produktverantwortung“ Beachtung finden, wonach eine Verpflichtung zur Rücknahme und Entsorgung von Fremdprodukten im Rahmen der pflichtigen Rücknahme nach § 25 KrWG nicht anders zu bewerten sein könne, als im Rahmen der freiwilligen Rücknahme nach § 26 KrWG.

Letztlich, so die Verwaltungsrichter, stünde eine derart weitgehende Auslegung auch nicht im Widerspruch zu dem austarierten System von Überlassungspflichten der §§ 17 und 18 KrWG, die einen interessengerechten Ausgleich zwischen den öffentlich-rechtlichen Entsorgungspflichten und der privaten Abfallwirtschaft erstreben. Insoweit habe der Gesetzgeber mit § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 KrWG anerkannt, dass die freiwillige Rücknahme in Wahrnehmung der Produktverantwortung nach § 26 KrWG einen Ausnahmetatbestand von der allgemeinen Überlassungspflicht darstellt und diese spezielle Regelung gar der Ausnahme für gewerbliche Sammlungen nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 KrWG vorgehe. Anders als gewerbliche Sammlungen als strikte Ausnahme von den Überlassungspflichten habe der Gesetzgeber das System der Produktverantwortung alternativ neben dem System der §§ 17 und 18 KrWG gesehen, so dass sowohl öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger als auch gewerbliche und gemeinnützige Sammler aufgrund der gesetzlichen Konzeption Einschnitte hinzunehmen hätten.

III. Konsequenzen für die kommunale Abfallwirtschaft

Die Entscheidung steht in Kontinuität zu anderen gerichtlichen und behördlichen Entscheidungen im Hinblick auf eine weitreichende Auflösung und Verwässerung kommunaler Zuständigkeiten sowie der hoheitlichen Verantwortungsträgerschaft. In dieselbe Stoßrichtung ging bereits der Feststellungsbescheid der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt der Freien und Hansestadt Hamburg vom 25.03.2013 gegenüber einer internationalen Modekette hinsichtlich der Organisation und Durchführung eines vergleichbaren Systems.

Solange die hohen Marktpreise für Wertstoffe anhalten, tendieren insbesondere viele Verwaltungsgerichte (noch) zu einer weiten Auslegung von gesetzlichen Ausnahmetatbeständen, wie aktuelle Rechtsprechungen zu den Ausnahmetatbeständen des § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 4 KrWG zeigen,

vgl. nur VG Würzburg, Urteil vom 10.02.2015, W 4 K 13.1015; VG Düsseldorf, Urteil vom 08.08.2014, 17 K 5343/13; VG Oldenburg, Beschluss vom 05.11.2014, 5 B 2302/14.

Dann jedoch, wenn „der volatile Wertstoffmarkt das wirtschaftliche Interesse an einer ordnungsgemäßen Verwertung zurücktreten lässt“ und in der Folge gewerbliche Sammlungen wie „freigestellte“ Hersteller und Vertreiber „in Wahrnehmung ihrer Produktverantwortung“ die Rück- bzw. Entgegennahme und Entsorgung einstellen, wird der Ruf zum Einschreiten der stets und jederzeit entsorgungspflichtigen Körperschaften zur Bewirtschaftung von Abfällen im Sinne der Abfallvermeidung und Abfallverwertung als tragende Säule der Kreislaufwirtschaft laut. Als erster Bedenkenträger einer „vollständigen Marktöffnung“ äußert sich zutreffend der Bayerische Verwaltungsgerichtshof unter Bezugnahme auf eine in ihrer Deutlichkeit erfreuliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bereits kritisch zu einzelnen Fragen,

vgl. Urteil vom 10.02.2015, 20 B 14.710 und Urteil vom 29.01.2015, 20 B 14.666, beide abrufbar unter: www.gesetze-bayern.de; BVerfG, Beschluss vom 28.8.2014, 2 BvR 2639/09, NVwZ 2015, 52 f..

Das VG Würzburg hat die Berufung gegen das Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Es bleibt demnach zu hoffen, dass die eher unausgewogene und im Ergebnis unerfreuliche Rechtsauffassung des VG Würzburg durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof korrigiert wird. Die unbegrenzte Freistellung ganzer Abfallfraktionen unabhängig von der Hersteller- bzw. Vertreibereigenschaft im Einzelfall entzieht den zuständigen öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern wesentliche Wertstoffmengen, ohne dass diese eine Funktions- oder Organisationsbeeinträchtigung darlegen können (§ 18 Abs. 4 KrWG findet insoweit keine Anwendung). Angesichts aktueller Berufungsurteile zum ebenso umstrittenen Sachkomplex gewerbliche Sammlungen besteht dahingehend jedenfalls leise Hoffnung,

vgl. aktuell zu entgegenstehenden überwiegenden Interessen Bay VGH, Urteil vom 10.02.2015, 20 B 14.710; zur Darlegung der Verwertung Bay VGH, Urteil vom 29.01.2015, 20 B 14.666.

Gruneberg Rechtsanwälte vertritt bundesweit öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger und ihre kommunalen Erfüllungsgehilfen vor den Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichten sowie Zivilgerichten.